Sehnsucht nach Sichtbarkeit, Abgrenzbarkeit und Zurechenbarkeit. Über Kompetenzen und deren Verlust

In: ide. Informationen zur Deutschdidaktik. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule, 2018, 42 (3-2018),  2018, 12-24

Kompetenz ließe sich zurückführen auf competo: »etwas gemeinsam (zugleich) erstreben su- chen«. Stattdessen wird das einzelne Individuum als Zentrum und Adressat, als Ausgangspunkt von Machbarkeit, Zurechenbarkeit, Kontrollierbarkeit gedacht, kaum in seiner Singularität. Es geht um die Perfektionierung eines Individualismus, die einer positiv bewerteten Individualisie- rung zu entsprechen scheint. Individualisierung ohne das gesellige Beisammensein macht einsam, generiert Optimierungsdruck und Schuldgefühle, macht ausbeutbar und schafft Zustände, die oft nur als Symptome artikulierbar werden: »Unbeschulbarkeit«, Depression (eine Staubsaugerdiag- nose für Trauer, Erschöpfung, Überforderung, geronnene Wut, Nicht-Anerkennung …), ADHS, Essstörungen, Drogenabhängigkeit u.a.m. Kompetenzdenken ist ein Rückfall in ältere Philoso- phie: Eigenschaftsdenken steht im Gegensatz zur Performativiät. Kompetenzdenken hat eine por- nographische Struktur: Es ist zeitnah zielführend ausgelegt, handhabbar, ohne Geheimnisse, alles sichtbar, notfalls messbar, der Erfolg liegt auf der Hand. Das mit dem Kompetenzkonzept auf- gegriffene Problem ließe sich mit einem sozialen, politischen, ökonomischen Übertragungs- konzept aus der Psychoanalyse differenzierter entwickeln. …

»Jedes Kind ist für eine bestimmte Aufgabe die Expertin oder der Experte.
Ziel der Schule ist, dass jedes Kind sein eigener Chef wird.
Jeden Tag arbeitet jeder an etwas Anderem. Man könnte auch sagen, jeder arbeitet an sich [als ob es nichts Interessanteres auf der Welt gäbe; Anm. d. A.]. Aber es gibt einen gültigen Maßstab: Das Kompe- tenzraster.«
Eine Schülerin: »Wir müssen uns selber einschätzen, was wir jetzt üben müssen. Ja, und, dann machen wir das halt.«
Kahl: »Und wenn man dann doch lieber in die Luft guckt und sich die Blätter draußen anguckt oder so?«
Schülerin: »Ja, wie?«
Kahl: »Dass man mal nichts macht, dass man was anderes macht. Oder träumt.«
Schülerin: »Da vertraut uns die Lehrerin halt, dass wir auch was lernen. Und sonst ist es ja, haben wir ja selber Schuld, wenn wir nix lernen, weil dann wissen wir halt später nichts.«

In: Neue Max-Brauer-Schule. Regie: Reinhard Kahl (2007). Online: https://www .youtube .com/ watch?v=MBkkFnjb8lA [Zugriff: 25.6.2018]. Siehe auch: Individualisierung – Das Geheimnis guter Schulen . DVD. Regie: Reinhard Kah (2011).