Foto Katerina Belikina 2019 Jahreszeiten (Ausschnitt); kjp
In: Harrasser, Karin, Härtel, Insa, Pazzini, Karl-Josef; Witte, Sonja (Hg.): Heil versprechen. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1/2020 (S. 83-98). Bielefeld: transcript.
»Menschen wünschen sich zurecht. Wünschen ist aufwendig. Wenn drei Wünsche frei sind, geht das meist daneben. Es bietet sich an, das Wünschen an andere zu delegieren, die schon wunschlos glücklich sind. Jedenfalls so zu sein scheinen. Die Heiligen predigen uns dann, wie wir dahin kommen, oder auch wie wir zu sein hätten, oder wie wir gewesen wären, hätten wir nicht oder die Vorfahren schon immer dieses verfehlt oder Fehler gemacht, diese Mängel mitgebracht, Erbsünde, dann Umkehr.
Erfüllung, Erlösung, Lösung, Analyse des Mangels würde, wenn nicht das Heil, dann aber ein Begehren ermöglichen, das sich immer wieder von der eingebildeten Fülle löst und neuen Mangel schafft. Die Versuchung ist aber groß, Vorräte gegen Mangel anzuhäufen, auch als Warensammlung, nicht erst seit den Zeiten der »ursprünglichen Akkumulation« (1970 [1890]: Kap. 24). Mit solcher Anhäufung werden Macht und Herrschaft als Umrandung des perspektivischen Blicks begründet, mit dem das einäugige Individuum ersteht.
Es juckt in den Fingern das schreibend umzukehren: Es gibt keinen Mangel. Gehen wir doch von der Fülle und dem Drang zu geben aus! …
Seiten 83 – 98