RISS 92 Psychiatrie. Was erreicht die Psychoanalyse?

Erscheint zur Leipziger Buchmesse

Editorial

Die Psychoanalyse ist weit davon entfernt, die Freud’sche Prophezeiung einzulösen, dass sie die Psychiatrie einst erobern würde, wie Freud in einem Brief an Eugen Bleuler 1906 spekulierte. Sie steht als schwach institutionalisierter Diskurs, der sich zumindest hierzulande im Wesentlichen auf die langwierige Praxis nicht-psychiatrischer Leiden zurückgezogen hat, der heutigen Psychiatrie eher unverbunden gegenüber. Auch wenn sie weiterhin für sich behaupten kann anzustreben, die Singularität, die Geschichten und »Verrücktheiten« des Einzelnen zu würdigen und diesen Qualitäten einen Platz in der Kultur einzuräumen, muss es doch auch immer wieder darum gehen, erreichbar zu bleiben und zu werden für die Leidenden, die sich unter unterschiedlichsten Bedingungen in Psychiatrien befinden oder wiederfinden.

Die Psychiatrie hingegen steht als medizinisches Fach und als Institution des Gesundheitssystems stark unter dem Einfluss von positivistischen, biologisch-technischen Diskursen, normativen Ideologien und erdrückenden Effizienzforderungen. Die alltägliche Praxis ihrer Einrichtungen, das Wissen und die Methoden ihrer Forschung und Bildung, die Bedingungen und Möglichkeiten ihres Denkens rücken oft weit ab von den besonderen Verrücktheiten und Leiden der Einzelnen. Die Angst vor und das Interesse an Wahnsinn – die Sorge um ihn –, die als existentielle und soziale Faktoren die Psychiatrie im Innern prägen, haben es schwer, sich in ihr zunächst zu artikulieren, sodann zu kultivieren. Die Singularität der Subjekte, ihre Leiden und unbequemen Wahrheiten und ihre verstörenden Produktionen drohen darin übersehen und verleugnet zu werden. Damit kommt eine Seite gesellschaftlicher Produktivität – und wenn es nur die Abseite wäre – nicht mehr zur Geltung.

Beide, Psychiatrie und Psychoanalyse, vergessen gerne ihre gemeinsame Geschichte, ihr geteiltes Interesse an den schillernden und abgründigen Seiten der menschlichen Existenzmöglichkeiten und damit die noch ausstehenden Möglichkeiten ihrer Begegnung.

Das Heft 92 des RISS will dieses Vergessen kritisch reflektieren und es punktuell aufheben, sich Experimenten, Erfahrungen und Begegnungen zuwenden, die von Öffnung und Dialog zwischen Psychiatrie und Psychoanalyse zeugen. Das Heft fragt, was die Psychoanalyse aus der Welt der Psychiatrie heute noch erreicht, sowie umgekehrt, was und wen sie dort wie zu erreichen vermag.

Ausgehend von sehr verschiedenen Hintergründen und Perspektiven zeugen die Beiträge des Hefts von individuellen und kollektiven Versuchen, theoretische und praktische, der Psychiatrie und der Psychoanalyse gemeinsame Wege zu (er)finden, die die Möglichkeit fruchtbarer Formen des Austauschs und der Begegnung zwischen beiden Disziplinen verwirklichen.

Alexandre Wullschleger und Anne Edan, beide Psychiater*innen, widmen sich in ihren Beiträgen der Frage nach der Möglichkeit einer psychiatrischen Praxis, die durch die Psychoanalyse geprägt ist, in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen: die Akutpsychiatrie und die Anwendung von Zwangsmaßnahmen – unter dem Aspekt der psychotischen Übertragung –, und die Arbeit bei und mit Jugendlichen, die einen Suizidversuch unternommen haben. – Die Realität der psychiatrischen Praxis und deren Verbindung mit der Justiz werden auch im Text von Judith Kasper und Karl-Josef Pazzini über den Film 12 jours von Raymond Depardon unter psychoanalytischen Aspekten betrachtet. – Die Herausforderungen der psychotherapeutisch-psychoanalytischen Arbeit mit Menschen mit Psychose-Erfahrung und die Erreichbarkeit schwerstkranker oder sozial stark ausgegrenzter Menschen stellen einen weiteren Fokus des Heftes dar und werden in drei Beiträgen angegangen. In zwei Interviews werden modifizierte psychoanalytische Ansätze bzw. Behandlungsrahmen vorgestellt, die sich der Arbeit mit diesen sonst schwer zu erreichenden Menschen widmen: die Psychoanalytikerin Dorothée Bonnigal-Katz spricht mit Patricia Gherovici und Manya Steinkoler über das Psychosis Therapy Project (PTP), das sie in England gegründet hat und leitet. Dorothea von Haebler und Christiane Montag stellen im Gespräch mit Aaron Lahl und Alexandre Wullschleger die Grundprinzipien der modifizierten Psychosenpsychotherapie (MPP) vor, die konkrete Werkzeuge für die psychotherapeutische Praxis bietet. – Barry Watt stellt in seinem Beitrag Überlegungen zu seiner Praxis mit obdachlosen Menschen vor, die oft psychiatrisch gesehen krank sind, für die viele Einrichtungen der Gesellschaft nicht mehr erreichbar sind.

Eine historische Perspektive nimmt der Text von Chantal Marazia ein, der sich mit dem keineswegs eindeutigen und einfachen Verhältnis von Basaglia und der Psychoanalyse und der Aktualität und Rezeption seines Werkes beschäftigt. – Judith Kasper wirft in ihrem Beitrag,  der auf einem Forschungsprojekt über Archive der psychiatrischen Klinik San Lazzaro in Reggio Emilia basiert, einen ebenso persönlichen wie auch philologischen und historischen Blick auf den Signifikanten »Psychiatrie« und dessen Resonanzen. – Gianluca Solla kommentiert mit einem Beitrag die Bilder des italienischen Künstlers Giancarlo Savino, die in diesem Heft veröffentlicht werden.

Drei Rezensionen ergänzen dieses Hefts, zu Sonja Wittes Symptome der Kulturindustrie, Dagmar Herzogs Lust und Verwundbarkeit und Erik Porges Die Krankenvorstellung. Es folgt ein Nachruf von Peter Widmer auf den kürzlich verstorbenen Psychiater und Psychoanalytiker Hermann Lang.

Parallel zu dieser Ausgabe des RISS erscheint auch die neue Ausgabe des RISS+ Lacan und die Psychiater. In diesem Heft publizieren und dokumentieren wir übersetzte Ausschnitte eines bisher noch unveröffentlichten Vortrags von Jacques Lacan, den Petit discours aux psychiatres, den er 1967 vor den Psychiatern in Ausbildung in der Klinik von Sainte-Anne gehalten hat. Dieser Text wird von Kommentaren begleitet, die im Zusammenhang mit dem Thema des RISS besondere Schwerpunkte und Fragen dieses Vortrags und der heutigen Beziehung von Psychiatrie und Psychoanalyse beleuchten.

 

 

Marcus Coelen, Judith Kasper, Karl-Josef Pazzini und Alexandre Wullschleger