Rede zur Semestereröffnung 2005

Liebe Aktionäre, liebe Gesellschafter!
Seien Sie herzlich willkommen zur Halbjahreshauptversammlung der neuen Ich AGs.
Heute können Sie beginnen, Ihr individuelles Kapital, ihre Produktivkraft zu vermehren.In der Bologna-Erklärung von 1999 heißt es, dass ein Europa des Wissens nichts weniger als die „unerläßliche Voraussetzung für gesellschaftliche und menschliche Entwicklung“ sowie die „unverzichtbare Komponente der Festigung und Bereicherung der europäischen Bürgerschaft“ sei.

Auch wenn das anstrengend ist, einen großen Vorteil haben Sie: Sie als jeweilige Ich-AG sind vielleicht manchmal einsam, aber nie werden Sie arbeitslos, es bleibt immer die Notwendigkeit an sich zu arbeiten! Lebenslänglich. Im Regelvollzug. Mit Standards.

Standard heißt der Maßstab. Standard leitet sich von altfränkisch standord ab. Das war der Ort, an dem sich die wehrhafte Bevölkerung zum Appell traf, um gemustert zu werden, ob ihrer Tauglichkeit zur Verteidigung oder zum Angriff. Dieser standord wurde durch einen Fahne markiert. Die hieß dann Standarte. Davon leitet sich der Standard ab.
Diese entfernt aus dem Militärischen kommende Terminologie, versetzt mit der Sprache der Organisationsentwicklung und der Unternehmensberatung, lassen mich, der ich einmal mit Joschka in den Straßen kämpfte, sogar auf Ludwig Erhardt, den Verfechter der sozialen Marktwirtschaft zurückkommen, der noch wusste, dass die Wirtschaft und der Markt nie und nimmer in der Lage sind, ihre eigenen Voraussetzungen mitzuproduzieren. Er setze deshalb auf Familie, Schule, Kultur. Jetzt, wo die Wirtschaft nicht gerade blüht, der Binnenmarkt nicht gerade expandiert und das Paradigma der Lohnarbeit offensichtlich an ihr Ende kommt, wird noch schnell das Bildungssystem als Voraussetzung und Gegengewicht des Wirtschaftens, eines intern nicht durchgängig nach Kriterien heutigen Wirtschaftens rationalisierbarer Bereich mittels oben genannter Terminologien und Verfahrensweisen weiter zerstört. Hoffen wir auf den Phönix aus der Asche!
Jetzt bin ich ausgerutscht. Das stammt aus einer anderen Rede.
Ich wollte vielmehr noch etwas zu den Rohstoffen für den Produktionsprozess in der Ich-AG sagen. Denn wir sind ein rohstoffarmes Land. Wir müs-sen den Rohstoff selber produzieren. Dann ist es zwar kein Rohstoff mehr, wenn er produziert werden muss, sondern etwas, das aus dem Rohen her-ausgeführt wurde. Eruditio – die Herausführung aus dem Rohen – war ein Vorläufer des deutschen Bildungsbegriffs. Also nicht Rohkost, sondern das Üben der Zubereitung. Daraus wird Bildung.
Das ist ein Wunsch!
Wie die Brüder Grimm wussten: „Es gab einmal eine Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat“. Sie wollen uns sagen: Es hilft nichts, wenn alle Wünsche in Erfüllung gehen. Das Wünschen ist wichtig, besonders beim Anfangen.
So kommt Peter Handke auch auf das „Wunschlose Unglück“.
Wünsche sind wichtige Rohstoffe in einem rohstoffarmen Land.

Von der Bildung ist zuwenig da.
Dazu ein Diagramm.

Angehende Pädagoginnen und Pädagogen haben heute die Aufgabe, den Beziehungsrohstoff zu produzieren und zu veredeln, der von der gesellschaftlichen, genauerhin von unserer Art des Haushaltens aufgebraucht worden ist. Man hat gar nicht gemerkt, was man da alles verbraucht hat. Jetzt ist es weg. Und sie sollen es wieder her schaffen.
Mir ist angesichts der schon Jahrzehnte dauernden Krise des Bildungswesens klar geworden: Das waren gar keine Wunder, die Jesus vollbracht hat, als er mit 5 Broten und zwei Fischen 5000 Leute gespeist hat. Das machen wir jeden Tag.
Das Gebäude, in dem wir heute nicht sind, weil es renoviert wird, das hatte 1960 bei seiner Eröffnung Platz für 50 Professoren und Dozenten und 450 Studenten. Zur Zeit haben wir ca. 100 Lehrende und ca. 6500 Studierende. Das heißt Qualitätssteigerung auf beiden Seiten, bei den Studierenden und bei den Lehrenden.
Nur eins: Wenn man jemanden etwas gibt, was man nicht hat, dann ist das Betrug oder Liebe. Wir brauchen wieder pädagogischen Eros …
Sagen sollte ich aber zeitgemäß:
Stärken Sie die Ich AG, so wird Ihr symbolisches Kapital vermehrt werden. Forscher arbeiten daran, wie Sie dieses symbolische Kapital dereinst sogar vererben könnten, wenn nicht an Ihre eigenen Nachkommen, so doch an fremder Leut’s Kinder. Lehrerbildung nennt man das.
Wenn überall die nachwachsende Generation den Eindruck gewinnen mag, sie sei unerwünscht, gar überflüssig: Hier und bei sich sind Sie es nicht! Sie sind autonom. Sie müssen sich nur einfach selbst wertschätzen. Dann sind Sie auch noch immun. „Die Figur des unternehmerischen Selbst ist die Figur eines ,Schulterlosen’, einer Person, die durch das Zusammenleben oder Mit-Sein nicht belastet wird. Sie zeichnet sich durch vollkommene Immunität aus. In der Beziehung zum Selbst, zu anderen und der Welt, die vom unternehmerischen Selbst verlangt wird, gibt es keine lästigen Fragen über das Zusammenleben“ (Masschelein, Simons 2005, 104f).

Sie sind hier nicht in einem Kindergarten. Den würden Sie daran erkennen, dass er gebührenpflichtig ist und keine Plätze zur Verfügung hat. Sie sind auch nicht in einer Grundschule, die bald zugemacht wird, oder in einem Gymnasium, das wieder erfreulich hohe Klassenpopulationen aufweist, jenseits der 30, Sie wollen auch keine Lehrstelle, nein Sie sind in der Universität. In einer der größten Universitätsstädte, die in diesem Jahr den 816. Hafengeburtstag feiern kann, und seit 86 Jahren einen Universität besitzt. Das unterscheidet sich nur durch eins.

So jetzt ohne Jux:
Gegen diese erdrückende Klarheit der Zahlen hilft es nicht, sich auf das Eigene zu besinnen, Aneignung zu betreiben, sondern eher eine Enteignung seiner selbst und der Anderen. Dies ist noch keine Befreiung, nur eine mögliche Befreiung des Blicks auf die Welt (vgl. Masschelein, Simons 2005, 105).
Wie das und wie bekommt man das hin?
Gegenüber allen Verlautbarungen im europäischen Bildungsraum, die auf Aktivität und individuelles Unternehmertum setzen, auf Vorstellungen vom aktiven Lernprozess, von Verpflichtung zur aktiven Gestaltung und Beherr-schung des eigenen Lebens, weshalb man lebenslang lernen müsse. Man muss dementsprechend ein Leben führen, das Erträge bringen muss, die man evaluieren kann. Im Widerstreit dazu geht es zumindest auch um eine passive Haltung, die erst ein Mitsein ermöglicht, ein Zusammensein. Denn sie werden, wie auch gerade im Moment, Worten ausgesetzt, die etwas von Ihnen verlangen. Sie kommen in die Position des neugierigen Kindes, weniger des fertigen Erwachsenen, eine Position der Passion, einer Leidenschaft, die die Worte, die von woanders her kommen, mit neuem Leben füllt, mit Ihrem Leben. Sie werden durch Lektüren und durchs Zuhören einem Anderssein ausgeliefert.
Deshalb ist das Studium keine planbare, beherrschbare Aktivität, wie das Unternehmensberater oder Wissenschaftssenatoren suggerieren und schon Zustimmung bei vielen Kolleginnen und Kollegen erhält. Studieren hat keinen Output und kein Ergebnis, „aus dem einfachen Grund, dass wir das Ausgesetztsein nicht beherrschen können“ (Masschelein, Simons 2005, S.110). Während wir ausgesetzt sind, sind wir nicht allein und von anderen abhängig und diesen anhängig. Weder der Lehrende noch die Studierenden besitzen dabei eine autonome Position: „Man kann nicht entscheiden oder wählen, was gesagt wird oder was man von dem anderen (zu hören) bekommt. Ein Zuhörer zu sein, bedeutet, daß man angesprochen wird, dass man eine Antwort schuldig ist. Man wird in ein Netzwerk aus Verpflichtungen (gegenüber den anderen, gegenüber der Sprache usw.) gestellt, das man nicht beherrschen und nicht verwalten kann“(Masschelein, Simons 2005, S.113). „In diesem Sinne geht es in Erziehung und Unterricht nicht um produktive Praktiken. Es geht nicht um (Re)produktion von Wissen, Werten oder Haltungen autonomer Individuen, Staaten, Gemeinschaften oder Kulturen, sondern um die Art wie wir uns zu unserer Abhängigkeit, Passivität, Verletzlichkeit, Angegriffenheit, das heißt, zu unseren menschlichen und (kindlichen) Bedingungen des Ausgesetztseins, des Preisgegebenseins verhalten“(Masschelein, Simons 2005, S.116).
Es geht um einen Raum, einen Ort, eine Zeit des Denken-mit-anderen.
Mir ist klar, dass das wie ein heroisches Unternehmen erscheint, angesichts der Realität der Universität. Es ist aber nicht ganz so. Es ist nach wie vor möglich, sich auszusetzen, sich mit dem Einfall des anderen, der anderen zu bilden. Dazu darf gar nicht alles ideal sein und so wie wir es uns jeweils einbilden. Es gehört zum Raum und zur Zeit der Universität, des Studiums, dass wir sie nicht vorweg bestens gestaltet vorfinden können. Wir haben Möglichkeiten, wenn wir Passivität nicht mit Untätigkeit verwechseln und uns ergreifen lassen. „Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um“, sang Wolf Biermann einmal. Es bedarf dazu des frei schweifenden Blicks und der Fähigkeit zuzuhören. Das macht vielleicht Angst, weil man nicht wissen kann, was dann passiert. Angst ist einer der wichtigsten Voraussetzungen Neues zu erfahren, anderes zu besetzen, zu lieben.
Stellen Sie sich eine Situation vor, in der Ihnen ein Freund etwas sehr engagiert vorträgt mit dem Gestus der Überzeugung. Sie hören zu. Er ist beispielsweise begeistert von einem Film, den er gesehen hat. Sie sind etwas verwirrt, weil Sie sich nicht vorstellen können, dass es so war. Sie sind ihm ausgeliefert, leiden, bekommen Angst um Ihre eigene Realitätswahrnehmung und um den Freund. Ihnen dämmert, dass es anders gewesen sein könnte, dass er, der Erzähler es aber so wahrgenommen haben müsse. Plötzlich haben Sie einen Einfall, raffen allen Mut zusammen und weisen ihn auf die andere Sichtweise hin.
Ich zeige Ihnen dazu einen kurzen Film, leider in einer miserablen Qualität. Am Schluss des Filmes wird eine andere Sichtweise in Form einer technischen Lösung vorgeschlagen. Wenn das immer so möglich wäre, hätten unsere hilflosen Bildungsreformer Recht. Auch ich wünsche manchmal, dass es so einfach wäre. Man kann technische Lösungen als Wunschträume lesen, Träume von erfüllten Wünschen. Wir brauchen Technik, auch im Lehren und Forschen, und nicht nur als Apparat.
Ich wünsche, dass es Ihnen und mir, uns den Lehrenden, hin und wieder gelingt, einen Einfall zu haben (passiv) und darauf leidenschaftlich zu reagieren (aktiv-passiv). Sehen Sie den Film als ein Märchen: Es war einmal eine Zeit als das Wünschen noch geholfen hat …
[Das Video des DVD-Herstellers „Soken“ siehe: http://www.ad-awards.com/, Kategorie: Entertainment]

Ich wünsche Ihnen Glück, das ist etwas anderes als Output.