Ulrich Matthes liest Freud

In der SZ streiten die SPD-Politikerin Gesine Schwan und der Schauspieler Ulrich Matthes in einem sehr lesenswerten Gespräch über Identitätspolitik. Schwan pocht mit Immanuel Kant auf die Trennung von Gefühl und Argument: „Der hat es nicht so sehr mit Empathie, weil das Gefühlsmäßige ihm zu subjektiv ist. Er sagt das verstandesmäßig, wenn er fordert, sich an die Stelle der anderen zu versetzen. Das ist eine Frage der Einbildungskraft, nicht des Gefühls. Und wenn wir jetzt zu dem Schluss kämen, dass ich das nur kann, wenn ich völlig mit der anderen Person identisch bin, dann ist Verständigung in einer vielfältigen Gesellschaft gar nicht möglich. Ich finde auch den Versuch schwierig, auf das eigene Anliegen aufmerksam zu machen, wenn das verbunden wird mit einer sehr offensiven Selbstdefinition als Opfer, man traut sich dann kaum noch, etwas zu antworten. Das suggeriert, dass Widerspruch unsensibel ist für Leid. Und schwierig ist es auch, wenn sich eine Seite eigentlich gar nicht verständigen, sondern die Bühne erobern will.“
Matthes dagegen verteidigt die Emotion: „Meine Wut gegen die AfD ist so groß, dass ich möglicherweise keine Argumente, keine Empathie, kein gar nichts mehr zur Verfügung hätte, wenn es ‚pling‘ machte, und plötzlich stünde Alexander Gauland vor mir. Wir sind ja alle nicht nur aus Kant und Descartes und Platon gemacht, sondern auch aus Sigmund Freud und schwarzer Galle.“

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